Der lange Weg abwärts

„Long Way Down" von Jason Reynolds, dtv, 314 S., 14,95 € (ab 14 J.)

Mit 15 ist Will nun der Älteste. Sein Bruder: tot, erschossen. Sein Vater: schon länger tot, ebenfalls erschossen. So etwas passiert nun mal ins Wills Viertel und es ist immer derselbe Ablauf, fast schon Routine. Erst Schreie, dann Sirenen, später die dummen Fragen der Polizei, auf die sowieso niemand antwortet. Nur wenn es einen selber betrifft, dann ist es anders. Dieselbe Abfolge zwar, aber es tut viel mehr weh.

Was Jason Reynolds auf sehr intensive Weise erzählt, ist eher Momentaufnahme als Romanhandlung. Um die Innensicht seines Protagonisten auszudrücken, wählt der 36-jährige Amerikaner die Versform, kreiert eine Mischung aus freien Rhythmen und Sprechgesang. Viele Worte sind auch gar nicht nötig, um das Milieu zu umreißen, in dem sich diese Tragödie abspielt. Die Geschichte wiederholt sich seit Generationen, weil die Bedingungen im sozial abgehängten Brennpunkt immer dieselben sind und Menschen in die Kriminalität treiben. Eine Subkultur, in der es um Clans und Familienehre geht und statt der offiziellen die Ghetto-Gesetze gelten. Eins davon: Du musst Rache nehmen.

Aber muss man das wirklich? Während Will, um den vermeintlichen Mörder aufzusuchen, mit der Pistole seines Bruders im Fahrstuhl sieben lange Stockwerke nach unten fährt, kommen ihm Zweifel. Ihm erscheinen sein Vater, sein Onkel, der väterliche Freund des älteren Bruders, eine Freundin aus Kindheitstagen. Sie alle sind: tot. Will und mit ihm der Leser erkennt, worauf es hinausläuft, wenn auch Will der unheilvollen Tradition folgt. Dass dies nicht wie eine Belehrung mit erhobenem Zeigefinder daherkommt, verdankt „Long Way Down" seiner Authentizität und der unmittelbaren Erzählweise mit Gedanken, die scheinbar ohne Filter direkt aus Wills Kopf entspringen.

Udo Bartsch