Überraschend anders

„Eine irische Familiengeschichte", von G. Norton, Kindler, 348 Seiten, 22 Euro

Mit „Ein irischer Dorfpolizist" legte Graham Norton, britischer Comedian, Late-Night-Talkshow-Master und Promi-Flüsterer, vor nicht allzu langer Zeit sein Romandebüt vor. Nortons literarischer Einstand überzeugte vor allem handwerklich, hatte aber noch Steigerungspotential. Zu Beginn von Nortons neuem Roman „Eine irische Familiengeschichte" findet man sofort wieder Gefallen an der gefälligen Schreibe des Entertainers. Allerdings fürchtet man auf den ersten paar Dutzend Seiten, dass Norton diesmal ein paar klassische Muster zu viel bedient: Die Tochter aus der irischen Provinz, die in New York lebt und beim Ausmisten der Sachen ihrer verstorbenen Mutter in Irland Briefe findet? Die von einer schwierigen Liebe berichten und sogar die Identität des Vaters enthüllen könnten? Klingt fast zu geläufig. Wer das Buch hier schon zuklappen will, sollte jedoch besser dran bleiben. Denn Norton hat weit mehr zu bieten als vertrauten Standard, der durch starke Prosa aufgebessert wird. Das sympathische Multitalent baut eine klassisch anmutende Stimmung auf, die einen glauben lässt, genau zu wissen, was als nächstes kommt – und dann kommt alles vollkommen anders. Norton hat sogar einige richtig krasse Entwicklungen und Momente in petto, die man als Leser nur mit einem verblüfften Ausruf oder einem irischen Fluch quittieren kann. Bleibt die Frage, ob es nun seltsam oder zusätzlich beeindruckend ist, dass Norton bei seinem guten Humor literarisch weitgehend auf Witz verzichtet. „Eine irische Familiengeschichte" präsentiert sich sogar eher traurig und finster, während Norton zwischen dem Unerwarteten und dem Überraschenden stilistische Versiertheit und konzeptionelles Können zur Schau stellt.

Christian Endres