Magisches Auge

„Treacle Walker" von Alan Garner. Klett Cotta 2023, HC, 153 Seiten, 20,00 Euro.

Joseph hört den Ruf des Lumpensamm-lers vorm Haus und seine Neugier ist geweckt. „Knochen, Lumpen und Papier! Reibeisen und Geschirr, das gibt der Lumpensammler dafür!" Schnell greift er nach einem alten zerschlissenen Schlafan-zug und eilt aus dem Haus. So lernt er Treacle Walker kennen. Der hält sich an seine Zusage, nimmt den Schlafanzug und Joseph darf sich aus einer geheimnisvol-len Kiste, die Treacle Walker auf seinem Karren mit sich führt, etwas aussuchen. Seine Wahl wird sein Leben verändern!

Alan Gardner suchte sich zu Beginn seiner Karriere seine Themen in der Sagenwelt und seine Romane „Elidor oder Das Lied des Einhorns" und „Eulenzauber", beide entstanden in den sechziger Jahren, genie-ßen Kultstatus. Der heute 89jährige erhielt zahlreiche Preise für seine Werke und ist bei Fans der Fantasyliteratur eine sehr feine Adresse. Mit „Treacle Walker", Untertitel: Der Wanderheiler, schafft Gardner eine Geschichte, die nirgendwo richtig hineinpasst, und schon das ist reizvoll.
Seine Hauptfigur, der Jugendliche Joseph hat nämlich ein schwaches Auge und dies belastet in sehr. Nach seiner Begegnung mit Treacle Walker vermag er auf dem Auge wieder zu sehen. Aber ist es so einfach? Denn Joseph sieht Dinge, die andere, die um ihn herum sind, nicht sehen können!
Ganz sparsam ist diese Geschichte, das breit angelegte Erzählen, das Epische, das Wesenszug der Fantasy ist, gibt es hier nicht. Schlaglichtartig sind die Kapitel angelegt, vieles bleibt offen und so wird vor allem die Phantasie der Leserschaft angeregt. Dem Buch haftet etwas Uner-klärliches an, etwas Mystisches, und wer Antworten auf alle vermeintlich aufgewor-fenen Fragen sucht, ist hier definitiv nicht richtig. Die Einzigartigkeit von „Treacle Walker" liegt in Garners Fähigkeit, mit Elementen des Genres zu spielen und sie für sich in einen anderen Kontext zu stellen. Sprachlich ein Genuss, was si-cherlich auch an dem Übersetzer Bernhard Robben liegt, ist das Buch definitiv zu empfehlen für alle, die eingetretene Pfade zwischen zwei Buchdeckeln mutig verlas-sen wollen.

„Treacle Walker" erhielt 2022 mit dem „Booker Prize" den wichtigsten britischen Buchpreis. Rainer Scheer