„Sungs Laden" von Karin Kalisa, Beck Verl., 249 S., 19,95 Euro
Eindeutig meine Nummer 1 in diesem Lesejahr ist jetzt schon dieser Roman, der in Berlin spielt. Die Autorin stellte nach ihrem Umzug in die Hauptstadt fest, dass es ganz viele von diesen typischen, kleinen vietnamesischen Läden gab. Wie entstanden diese und was steckt dahinter? Hinter dieser eigenen Welt verbirgt sich eine große Geschichte. In den 60er-Jahren waren viele Vietnamesen als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen, als billige Arbeitskräfte, zeitlich befristet, ohne gleiche Rechte. Für die Frauen bedeutete dies bei Schwangerschaft gleich zurück ins Hei-matland geschickt zu werden. Daraus hätte ein trauriger Roman werden können, eine Schicksalsgeschichte. Doch die Autorin erschuf in ihrem Roman eine Utopie indem sie ein Stück vietnamesische Alltagswelt mit dem Berliner Leben zu einem Leben verflicht, in das man sofort eintauchen möchte. Ausgangspunkt ist Sungs Laden, ein Ort, der aus der Zeit gefallen scheint. Wo man alles finden kann, was aus anderen Läden längst verschwunden ist: aussortierte DDR-Produkte, Ersatzteile für uralte Geräte und sogar die Zeitung vom Vortag. Der Besitzer Sung ist Einwanderer der zweiten Generation. Mit Vietnam verbindet ihn nicht mehr viel, aber auch in Berlin ist er nicht richtig angekommen. Das ändert sich, als seine Mutter Hien, bei einer Schulaufführung ihres Enkels eine alte Marionette hervorholt und so die Vergangenheit zum Leben erweckt. Auch der Prenzlauer Berg scheint aus einem langen, lethargischen Schlaf aufzuwachen. Ausge-brannte Lehrerinnen machen freiwillig Überstunden. Überforderte Standesbeamte beginnen, neue Sprachen zu lernen und sich neu für ihre Umwelt zu interessieren. Nach nur wenigen Monaten ist der Stadtteil kaum mehr wiederzuerkennen: Parkraumwächter tragen Kegelhüte, zwischen den Häusern spannen sich Bambusbrücken und ein Wassermarionettentheater wird im Friedrichshain eröffnet. Kalisas größtes Kunststück ist, dass sie diese Geschichte in Form eines Sommermärchens leicht und beschwingt erzählt. So wohltuend warmherzig, dass man sich fragt, warum es eigentlich nicht häufiger solche wunderbaren Bücher gibt, die das Schöne im Menschen innerhalb ihrer Lebensräume besingt. Ich lechze nach einer Fortsetzung!
chriso
Stand: 12.04.2016
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