Film
 

„Sex-Szenen im Film sind oft nur billiger Voyeurismus.” (Film: Die Mitte der Welt)

Regisseur Jakob M. Erwa

Interview mit Jakob M. Erwa zu „Die Mitte der Welt"
Filmstart: 10.11.

Sein Debüt „Heile Welt" wurde auf dem Diagonale-Festival als „Bester österreichischer Spielfilm" prämiert und beim Filmfest Oldenburg mit dem „German Independence Award" ausgezeichnet. Mit seinem zweiten Film „HomeSick" präsentierte Jakob M. Erwa auf der Berlinale einen raffinierten Psychothriller um eine junge Cellistin. Nun folgt die Verfilmung des Bestsellers „Die Mitte der Welt", die Coming-of-Age-Geschichte eines jungen Helden, der sich rettungslos in seinen Mitschüler verliebt. Trotz des schwulen Themas wurde der Film auf das Festival von Moskau eingeladen. Mit dem Regisseur unterhielt sich unser Mitarbeiter Dieter Oßwald.

Doppelpunkt: Herr Erwa, wie waren Ihre Erfahrungen mit einem schwulen Film auf dem Festival von Moskau vertreten zu sein?
Erwa: Das war schon spannend, weil ich nicht gewusst habe, was mich dort erwarten würde. Die Zensur würde so einen Film verbieten, deshalb wird er in Russland nie regulär in die Kinos kommen. Umso mehr hat mich die Reaktion des Publikums gefreut. Nach der Vorstellung kamen Zuschauer wirklich mit Tränen in den Augen und haben sich bedankt, weil sie hier sehen konnten, dass ein schwules Leben möglich ist.
Doppelpunkt: Wie waren die Reaktionen der Medien?
Erwa: Auf der Pressekonferenz wurde gefragt, ob es denn normal sei, in Deutschland so zu leben. Einer wollte wissen, wie ich denn erzogen wurde, dass ich so einen Film drehe. Darauf sagte ich, dass meine Eltern mich wohl als selbstständig denkenden Menschen erzogen hätten. Und ich mir aussuchen können, wen und wie ich lieben kann. (Lacht)
Doppelpunkt: Die sexuelle Orientierung ist in Ihrem Film als völlig selbstverständlich gesetzt. Gehört das Thema Coming Out der Vergangenheit an?
Erwa: Coming Out-Filme werden immer eine Berechtigung haben. Aber ich finde es wichtig, dass Schwulsein nicht ständig nur als Problem dargestellt wird. Im Roman von Andreas Steinhöfel stellt die Problematisierung der sexuellen Orientierung noch einen der Handlungsstränge dar. Im Film wollte ich darauf verzichten, weil schwul, lesbisch, bi- oder transsexuell zu sein für heutige Jugendliche oft überhaupt kein großes Thema mehr darstellt. LGBT gilt für Teenager längst als Selbstverständlichkeit. Die Realität muss aber erst in den Medien ankommen.
Doppelpunkt: Wie heikel ist die Inszenierung von Sex-Szenen mit jungen Darstellern?
Erwa: Das ist eine große Verantwortung und verlangt besondere Behutsamkeit, schließlich sind die Darsteller bei solchen Szenen nicht nur körperlich nackt, sondern auch emotional fallen alle Hüllen. Eine Vertrauensbasis ist deswegen enorm wichtig. Zu Vorbereitung zogen wir uns zu einem Kennenlern-Wochenende in eine Hütte zurück, haben viel über Scham und Intimität und Sex im Allgemeinen und im Speziellen gequatscht. Hemmungen abbauen und Vertrauen aufbauen war die Devise. Am nächsten Tag war klar, dass diese Szenen kein Problem mehr sein werden.
Doppelpunkt: Wie wichtig sind diese Sex-Szenen?
Erwa: Bei manchen Filmen finde ich Sex-Szenen völlig überflüssig. Zudem wird oftmals wesentlich zu früh geschnitten und man hat das Gefühl, das alles dient lediglich einem billigen Voyeurismus. Ich wollte die Sex-Szenen, weil mir die Beschreibung von Sinnlichkeit und Leidenschaft im Roman sehr gut gefiel. Und schließlich gehört Sex zum jugendlichen Leben so wie die Musik. Außerdem ist es mir ein Anliegen zu zeigen, dass schwuler Sex ganz gleich wie hetero Sex zärtlich, sinnlich und sehr schön anzusehen sein kann.
Doppelpunkt: Welchen Einfluss hatte der Roman-Autor Andreas Steinhöfel auf die Verfilmung?
Erwa: Ursprünglich wollte ich das Drehbuch gemeinsam mit Andreas schreiben. Aber der lehnte ab, weil er schon zu viele Adaptionen las, die ihm nicht gefielen. Er sagt mir nur: ‚Mach' das mal allein, ohne Rücksicht auf Verluste!'. Natürlich war er dann doch neugierig, wie die Besetzung aussieht und kam auch beim Drehen vorbei. Aber die Freiheit, die er mir gelassen hat, war wunderbar. Mein Plan war es, den Film zu drehen, den ich beim Lesen gespürt habe - wobei klar ist, dass eine Verfilmung niemals allen Lesern gerecht werden kann.
Doppelpunkt: Ihr Hauptdarsteller Louis Hofmann gilt mittlerweile als das ganz große Nachwuchstalent, mit „Unter dem Sand" geht er sogar ins kommende Oscar-Rennen. Wie haben Sie den damals eher unbekannten Darsteller entdeckt?
Erwa: Louis kam ganz normal zum Casting - und ich war sofort hin und weg von ihm. Er ist für einen Regisseur wie eine Bank: Im Notfall kann man immer auf ihn schneiden. Louis geht mit einer großen Ernsthaftigkeit an die Dinge heran und sucht bewusst nach komplexen Rollen. Je weiter die Figuren von ihm weg sind, desto reizvoller ist es für ihn, weil er sich dann etwas trauen muss. Dass seine Karriere gerade riesige Sprünge macht, wundert mich kein bisschen. Es ist für mich völlig klar, dass Louis mal einer der ganz Großen in Deutschland wird. Und vermutlich sogar weit darüber hinaus.
Doppelpunkt: Worum geht es in Ihrem nächsten Film „Transmorphosis"?
Erwa: „Transmorphosis" beruht auf der wahren Geschichte von Valeska Réon, die in den achtziger Jahren als Model in Paris große Karriere machte - und keiner wusste, dass sie eigentlich als Mann geboren wurde. Das ist eine dramatische Geschichte, denn es geht um Liebe, um Familie, um Erwartungen und um Enttäuschung. Zugleich kommt der Humor nicht zu kurz, weil Réon ihre Autobiografie rückblickend auf eine sehr pfiffige Weise erzählt.
Doppelpunkt: Netflix und Co. gelten vielfach als neues Paradies für unabhängige Regisseure. Sehen Sie da ebenfalls Ihre Zukunft?
Erwa: Dafür müssten diese Plattformen wesentlich mutiger werden. Dort ist man sehr vorsichtig und sichert sich genau ab, wie der Publikumsgeschmack aussieht. Dem Medium selbst gehört allerdings durchaus die Zukunft. Wobei ich glaube, dass das Kino nie ernsthaft in Gefahr sein - dazu hat es schon zu viele Bedrohungen überlebt.

Dieter Oßwald

Stand: 18.10.2016

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